[Presse] KERS: Der 100-Millionen-Dollar-Flop
| 23.07.2009KERS: Der 100-Millionen-Dollar-Flop
Der größte KERS-Schock: Bei Tests bekam ein Mechaniker einen Stromschlag ab
Die Idee war so schön: Die Formel 1 soll sich als Pionier der Hybridtechnologie positionieren und dafür sorgen, dass die Autofahrer auf der ganzen Welt langfristig die Umwelt und ihre eigenen Geldbörsen nicht mehr so stark belasten müssen. Doch nach nur einem Jahr ist der Traum von KERS (Kinetic Energy Recovery System) in der Königsklasse geplatzt.
Aber wovon reden wir eigentlich, wenn wir über KERS sprechen? "KERS besteht aus drei Komponenten: Das eine ist ein Motorgenerator, das zweite eine Batterie, wo man die Energie speichern kann, und das dritte die Steuerelektronik", erklärt BMW Motorsport Direktor Mario Theissen. Soweit klar, Herr Doktor, aber wie bringt die aufgefangene Energie des Bremsvorgangs bitteschön die Antriebsräder dazu, sich schneller zu drehen?
Theissen: "Wenn der Fahrer auf die Bremse tritt, schaltet sich der Generator zu - das kann man sich im Prinzip wie einen Fahrraddynamo vorstellen, der mitläuft und elektrische Energie erzeugt. Die geht dann in die Batterie. Wenn der Fahrer den Knopf drückt, dann wird diese Energie aus der Batterie abgerufen und in zusätzliche elektrische Leistung umgewandelt. Die Fahrer spüren den Schub. Wenn der Kollege nebenan den Knopf nicht drückt, dann reicht das zum Überholen."
Schöner Traum, hässliche Wirklichkeit
KERS darf 400 Kilojoule Energie speichern und bei einer Entladung maximal 60 Kilowatt (oder 82 PS) freisetzen. Geht es nach der FIA, dann ist das aber erst der Anfang, denn der Automobilweltverband möchte die neue Technologie pushen. FIA-Präsident Max Mosley: "Wir wollen eine Speicherkapazität von 800 Kilojoule und einen Output von 100 Kilowatt. Damit könnte man die gesamte Energie abfangen, die beim Bremsvorgang eines herkömmlichen PKWs entsteht."
Doch KERS stand in der Formel 1 trotz der schön klingenden Theorie von Anfang an unter keinem guten Stern: Erst ging bei Testfahrten in Jerez ein Mechaniker wegen eines Stromschlags zu Boden, dann musste die Red-Bull-Fabrik wegen eines Feuers evakuiert werden - und die Szene in Malaysia, als Kimi Räikkönen mit qualmendem Auto zurück an die Box kam und seine Mechaniker Gasmasken tragen mussten, ist auch noch vielen mulmig in Erinnerung.
Beim Saisonauftakt in Australien verwendeten immerhin vier von zehn Teams (BMW, Ferrari, McLaren-Mercedes und Renault) KERS; mindestens zwei weitere (Toyota, Williams) versprachen spätere Einsätze. Doch schon beim achten Saisonrennen in Silverstone steckte KERS nur noch in den beiden Ferraris - BMW und Renault hatten sich gänzlich vom Energierückgewinnungssystem verabschiedet, McLaren-Mercedes vorübergehend.
Selbst Ferrari will KERS nicht mehr
Und selbst bei Ferrari, wo man KERS noch am konsequentesten vertraut, freut man sich schon auf den Tag, wenn man das System am Saisonende wegwerfen und ein neues Auto konstruieren kann. Frage an Teamchef Stefano Domenicali: War KERS ein Flop? "Ja", kommt es wie aus der Pistole geschossen. Nach einer kurzen Nachdenkpause fügt er an: "Das ist eine zu einfache Antwort, aber das ist eine Tatsache."
Dabei findet Domenicali die "grüne" Idee grundsätzlich nicht schlecht: "Wir müssen daraus etwas lernen. KERS ist im Straßenverkehr sicher die Zukunft. Wir sind aber im Motorsport, wo man viele Kompromisse eingehen muss, um sicherzustellen, dass diese neue Technologie für die Performance des Autos wirklich etwas bringt. Darum geht es unterm Strich. So, wie die Regeln jetzt sind, ist KERS nicht geeignet."
"Die Formel 1 soll durchaus als Innovator für den Straßenverkehr dienen, aber wir müssen sicherstellen, dass auch der Motorsport davon profitiert. In Zukunft sollten wir uns solche Änderungen also gründlich überlegen, um einen weiteren Fehler zu vermeiden", meint er und führt aus: "Wenn wir das gleiche Geld in die Entwicklung des Autos gesteckt hätten, wären wir heute vielleicht so schnell wie Red Bull. Es hat viel Geld gekostet - Millionen von Euro!"
Deutlich mehr als 100 Millionen investiert
Wer tatsächlich wie viel investiert hat, ist kaum nachzuvollziehen, aber man hört, dass quer über alle Teams und Zulieferfirmen wie Magneti-Marelli sogar weit über 100 Millionen US-Dollar ausgegeben wurden - für ein System, das nach einer Saison auf dem Müll landet und nur von einer kleinen Minderheit überhaupt eingesetzt wurde. Mosley sagt heute noch: "Ich würde ihnen raten, diese Technologie weiter zu verfolgen. Sie ist wichtig für die Zukunft des Sports."
Domenicali scheint den FIA-Präsidenten zu ignorieren, was diesen Vorschlag angeht, und erklärt: "Es war die Idee der FIA, KERS einzuführen - aus Marketinggründen. Ich will gar nicht leugnen, dass wir das anfangs genauso gesehen haben, aber je mehr wir uns damit befasst haben, desto mehr kamen wir dahinter, dass es nicht der richtige Weg ist." Ende 2008 waren sich fast alle einig, dass man KERS nicht einführen sollte. Das entscheidende Veto kam von BMW.
Es ist eine Ironie des Schicksals, dass BMW KERS nun ebenfalls verbannt hat, aber ausgerechnet Erzfeind Mercedes auf das wahrscheinlich beste System zurückgreifen kann. Die Silberpfeile wollen aber auf ein Veto gegen das inzwischen geplante FOTA-KERS-Verbot verzichten: "Die meisten Teams wollen KERS nicht. Also sind wir dazu bereit, den Vorsprung, den wir im Moment haben, im Interesse der Formel 1 aufzugeben", sagt Teamchef Martin Whitmarsh.
Zwei Gelegenheiten verpasst
"Das Konzept von KERS", erläutert der Brite, "war wahrscheinlich schon das Richtige für die Formel 1, aber vor zwei Jahren in Silverstone hatten wir den Eindruck, dass es hinsichtlich der technischen Freiheiten und Kosten außer Kontrolle gerät. Alle Teams außer Williams waren für ein Verbot. Am Ende des vergangenen Jahres traf das auf alle Teams außer BMW zu. Bei diesen zwei Gelegenheiten hätten wir KERS loswerden können."
Das große Problem abseits der horrenden Kosten: KERS wiegt immer noch rund 30 Kilogramm und erfordert Kompromisse, was Schwerpunkt und Aerodynamik angeht. Ob die Zusatzleistung das kompensieren kann, was in den Kurven verloren geht, kann keine Simulation der Welt zuverlässig errechnen. Doch dass drei von vier KERS-Teams das System inzwischen abgeschafft haben, spricht Bände.
"Im Nachhinein betrachtet", meint Whitmarsh, "hat diese Industrie ohne Zweifel einen Haufen Geld verschwendet - besonders wenn wir nächstes Jahr nicht mehr mit KERS fahren. Wir sind der Meinung, wir sollten es weiterverfolgen, aber wir wollen nicht mit einem Veto den Geist des Zusammenhalts innerhalb der FOTA zerstören. Schade, denn wir haben viel in KERS investiert und haben heute möglicherweise eines der besten Systeme, wenn nicht das beste."
Magerwahn unter den Fahrern
Man habe "die negativen Seiten unterschätzt", räumt Nick Heidfeld ein: "Du verlierst wegen des aerodynamischen Packagings Anpressdruck und du musst den Schwerpunkt höher setzen, weil du mit dem Gewicht mehr am Limit bist." Ganz zu schweigen vom Magerwahn, der bei den größeren Fahrern wegen des Zusatzgewichts ausgebrochen ist - Robert Kubica, der schon von 2007 auf 2008 sieben Kilogramm abgenommen hatte, wurde noch einmal dünner, sieht jetzt fast wie ein Hungerhaken aus.
Aus Sicht von Heidfeld ist das KERS-Projekt "ganz eindeutig" gescheitert: "Einige Teams hatten am Saisonbeginn keine andere Wahl, als auf KERS zu verzichten, weil sie nicht die Zeit und das Geld hatten. Im Nachhinein betrachtet hatten sie wohl Glück, weil es die richtige Entscheidung war, ohne KERS zu fahren." Da fällt uns ein Satz von seinem Chef Theissen ein, der vor Saisonbeginn noch davon überzeugt war: "Wer Weltmeister werden will, muss KERS im Auto haben."
"Ich glaube immer noch, dass KERS eine sehr gute Sache gewesen wäre - nicht nur für BMW als Hersteller, sondern auch für die Formel 1 insgesamt", sagt Theissen heute. "Es ist ein glaubwürdiges Stück Innovation für Straßenautos, das durch die Formel 1 enorm vorangetrieben wurde. Alle Ingenieure, die das Formel-1-System entwickelt haben, arbeiten nun an Serienprojekten. Es hätte eine große Geschichte für die Formel 1 sein können. Ich hoffe, dass es nicht in der Versenkung verschwindet."
Alle KERS-Teams abgestürzt
Gleichzeitig räumt er aber ein, dass es aus sportlicher Sicht wohl eine drastische Fehlentscheidung war, KERS zu entwickeln und dafür in anderen Bereichen Kompromisse einzugehen: "Die vier Teams, die KERS eingesetzt haben, waren die vier Topteams der vergangenen Jahre - und die sind kollektiv ins Hinterfeld gewandert." Immerhin hat Ferrari schon zwei Podestplätze errungen, aber ansonsten sind die "großen Vier" ins Bodenlose abgestürzt.
"Es war eine Initiative in guter Absicht", findet Ross Brawn, dessen Autos ohne KERS die Weltmeisterschaft anführen. "Im derzeitigen wirtschaftlichen Klima ist es aber vernünftig, KERS zumindest auf Eis zu legen, bis sich die Lage verbessert. Die Rennen sind meiner Meinung nach dadurch nicht spannender geworden. Es ist auch keine einzigartige technische Herausforderung, zumindest nicht für Ingenieure wie mich. Es war bisher kein großer Erfolg, aber vielleicht könnte sich das in einer besseren Wirtschaftslage ändern."
"Die Idee der FIA ist, den Wert von KERS zu erhöhen, um es konkurrenzfähiger zu machen und uns zu zwingen, KERS einzusetzen. Das ist aber eine Sorge der Teams, denn das würde noch mehr Geld kosten. Das ist übrigens auch einer der Reibungspunkte zwischen den Teams und der FIA. Die acht FOTA-Teams haben sich darauf verständigt, auf KERS freiwillig zu verzichten, da verdoppelt die FIA die Kapazität, um KERS noch attraktiver zu machen", schimpft Brawn.
Unzureichender Gegenwert für die Hersteller
Und weiter: "KERS ist eine interessante Technologie, eine interessante Richtung. KERS scheint aber nicht die volle Unterstützung der Hersteller zu haben. Die haben sich nur darauf eingelassen, um weiterhin ein Wettbewerbsfeld zu haben. Es gibt auch einen Technologietransfer in die Serie, aber wenn man sich ansieht, wie viel Investment erforderlich ist, dann ist der Gegenwert unzureichend. Es wurden hunderte Millionen in KERS investiert, aber in Silverstone fuhren nur zwei Autos damit. Es war also kein überwältigender Erfolg."
Das einzige Team, das ein halbwegs positive KERS-Bilanz ziehen kann, ist Williams - obwohl KERS kein einziges Mal im Formel-1-Auto gelaufen ist, nicht einmal bei Testfahrten! Aber Frank Williams war schlau genug, das Hybridunternehmen Automotive Hybrid Power zu kaufen und in Williams Hybrid Power umzubenennen. Außerdem wurde kein auf Lithium/Ionen-Akkus basiertes KERS entwickelt, sondern ein Schwungradkonzept.
Dieses setzte sich zwar in der kurzen Zeit in der Formel 1 nicht einmal ansatzweise durch, aber die vorangetriebene Forschung spült nun bare Münze in die Williams-Kriegskasse: "Nicht in unserem Fall", sei KERS ein Flop gewesen, lächelt der "Rollstuhlgeneral", "denn unsere Entwicklung hat zu sehr interessanten Anwendungen geführt, die sich kommerziell vermarkten lassen." So hatte sich das die FIA damals aber nicht vorgestellt, als die Idee erstmals aufkam...
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